Nikotinsucht und das zentralnervöse Belohnungssystem
Erstellt von r.ehlers am Sonntag 13. November 2016
Bild: https://www.dasgehirn.info/denken/motivation/sucht-2013-motivation-zu-schlechten-zielen
Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine grundlegende Wandlung des Bildes vom Menschen erlebt. Menschen, die süchtig wurden, hatten früher durchweg „selber Schuld“. Der Mensch war doch ein rationales Wesen, das erkennen konnte, was richtig und falsch ist – und das auch nach seinem freien Willen entsprechend handeln konnte, oder nicht?
In den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde uns Schülern in den Fächern Biologie, Religion und Philosophie frei nach Descartes‘ Spruch „Cogito, ergo sum“ gelehrt, dass wir Menschen durch unser evolutionäres Erbe tief in uns zwar auch von Instinkten und anderen animalischen Bedürfnissen angetrieben sind. Man wusste schon aus der Anatomie der zentralnervösen Systeme aller Lebewesen, dass es beim Menschen ebenso wie bei den Tieren alte Bereiche im Gehirn gibt wie Kleinhirn und Mttelhirn, die für die unbewussten zentralnervösen Abläufe zuständig sind. Von den Funktionen des menschlichen Gehirns, die wir mit den Tieren teilen, dachten die Experten in dieser Zeit nur sehr gering. Die Menschen waen doch mit einem riesigen Großhirn gesegnet, das offenbar der Sitz der menschlichen Vernunft war. Nicht die primitive Urnatur des Menschen machte ihn zur „Krone der Schöpfung“, sondern seine Fähigkeit zur rationalen Erfassung der Welt. Allerdings gestanden die Experten damals den angeblich unintelligenten Tieren auch keine der memschlichen vergeichbare Gefühlswelt zu, weshalb Tiere nach ihrer Meinung rechtlich Sachen (lat. res) waren, mit denen man nach Belieben umspringen konnte. Nur unnötige Schmerzen durfte man ihnen nicht zufügen.
Inzwischen wissen wir von tiefen Gefühlen und enormen Intelligenzleistungen von Tieren und sehen, dass einige sogar ein Bewusstsein ihrer selbst besitzen. Als fundamentaler Unterschied zwischen ihnen und uns bleibt vielleicht gerade mal die menschliche Fähigkeit zur Abstraktion wie zur Beschäftigung mit eistenziell fraglichen, jedenfalls unerreichbaren jenseitigen Dingen. Womöglich ist die Ratio nicht mehr als ein gutes Werkzeug, dessen sich das menschliche Selbst bedient.
Frappierender als die Verschiedenheit von Mensch und Tier ist ihre Ähnlichkeit. Dies wird besonders deutlich angesichts der neuen Erkenntnsse über die komplexen Vorgänge in den alten Teilen des Gehirns, wo weitgehend unbewusst unsere Emotionen verwaltet und unser Verhalten gesteuert wird. Damit ist das Limbische System mit dem dort installierten Belohnungssystem rund um den Nucleus Accumbens angesprochen. Dort entscheidet sich das Suchtverhalten einerseits unter dem Einfluss von Steuerstoffen wie insbesondere den Botenstoffen und andererseits der im Hirn gespeicherten Bilder und Erkenntnisse.
Im Internet ist bei https://www.karger.com/Article/FullText/368279 unter dem Titel:
The Nucleus Accumbens: A Comprehensive Review
eine gründliche wissenschaftliche Übersicht (2015) über diese Fragen frei zugänglich, gespickt mit aller einschlägigen Literatur.Autoren sind Salgado S. und Kaplitt M.G. vom Laboratory of Molecular Neurosurgery, Department of Neurological Surgery, Weill Cornell Medical College, New York, N.Y., USA.
Hier kann ich nur einige Grundinformationen und einige Highlights aus dieser nur in englischer Sprache verfügbaren Studie wiedergeben.
Der Nucleus Accumbens (NAc) ist als Teil des mesolimbischen Systems einer der Basalganglien genannten Nervenknoten (Kerne) im unteren, also basalen Vorderhirn unterhalb der Großhirnrinde (cortex). Der NAc hat eine Kernregion (core), die von einer Schalenregion (shell) umgeben ist.
Über Nervenleitungen (Axone) ist der NAc verbunden mit dem Großhirn und allen Srukturen des Mittelhirns wie z.B. dem Striatum Ventrale, der Amygdala, dem Hippocampus und dem Hypothalamus. Er ist Teil der erst zum Teil erforschten Regelkreise, die die höheren geistigen Funktionen (Kognition), mit der Emotion, der Motivation und dem Bewegungsverhalten koordinieren. Dadurch steht der NAc im Zentrum des „Belohnungssystems“ des Gehirns sowie bei der Entstehung von Sucht.
Der NAc spielt nachweislich eine bedeutende Rolle bei einer Unzahl mentaler und psychischer Störungen wie Depression, Zwangsstörungen, bipolaren Störungen, Angststörungen, Tourette, Parkinson, Alzheimer, Huntington, Fettsucht, Drogenmissbrauch und Drogenabhöngigkeit.
Core und Shell
Beim Menschen -anders als bei Ratten – ist eine wesentliche höhere Dichte und Diversifikation der Zellstrukturen in der Schalenregion des NAc als in der Kernregion festgestellt worden. Bei den anderen Basalganglien des Striatums, wie der Bereich der Basalganglien unterhalb des Großhirns heißt, gibt es solche Unterschiede zwischen dem eigentlichen Kern und einer Schale darum nicht. Der NAc ist in seinem Aufbau auch nach Kern und Hülle ganz verschiedenen im Besatz mit Rezeptoren für die Aufnahme von Neurotransmittern ausgerüstet. Eindeutig festgestellt wurde dies für die Substanz P, Calretinin, Dopamin und Serotonin, die vorzugsweise die Hülle besiedeln, während u.a. GABA und Enkephalin-Rezeptoren im Kern selbst zu finden sind.
Eine weitere beachtliche Feststellung ist die, dass sich im NAc nicht nur für die striatalen Funktionen typischen Zellen finden, sondern auch solche, die der sog. erweiterten Amygdala analog sind. Bedeutende Wirkzusammnehänge lassen sich annehmen durch histologische Ähnlichkeiten und reiches Vorkommen von Neurotensin, Cholecystokinin, Opioiden und Nervenfortsätzen vom seitlichen Hypothalamus und der unteren Amygdala.
Dopaminerge Neuronen aus allen Teilen des Gehirns führen unmittelbar in den NAc. Er ist unter allen Basalganglien das Haupteingangstor für Informationen aus und zum Großhirn. Dopamin ist der Botenstoff, ohne den im NAc nichts läuft. Andererseits ist bei den aktivierenden dopaminergen Reaktionen die stete Präsenz des dämpfenden Transmitters GABA zu beachten, der offenbar die Dopaminwirkungen begrenzt – ebenso wie die Präsenz des die Erregeung senkenden Serotonins und Modulationen durch Glutamat und Acetylcholin.
Suchtverhalten
Was die Entstehung von Drogenabhängigkeit angeht, ist nach den vorliegenden Studien relativ sicher davon auszugehen, dass Noradrenalin und Serotonin eine begrenzende Wirkung ausübern. Voll erforscht ist das nicht, anders als der Einfluss von Glutamat auf den NAc. Opiate, Alkohol, Nikotin und Heroin gegenüber ist das Belohnungssystem des NAc weitgehend hilflos ausgeliefert. Auch hat man mentale Schlüsselreize (clues) ausgemacht, die dafür sorgen, dass Dopamin ungehindert „feuern“ kann.
Besonders interessant ist in meinen Augen die Feststellung, dass im Experiment gezielte Störungen bestimmter Serotoninrezeptoren zu depressiven Verstimmungen geführt haben.
Für Interessierte verweise ich bezüglich der hier beteiligten und anderer Hormone ergänzend auf meinen Beitrag http://www.essenspausen.com/ordnung-in-der-welt-der-hormone/.